Ministerpräsident Matti Vanhanen beim Gemeinsamen Parlamentarischen Treffen
Ein Europa der Ergebnisse
(Es gilt das gesprochene Wort)
Sehr geehrte Parlamentspräsidenten,
Verehrte Parlamentarier,
Es ist für mich eine große Ehre, hier beim Gemeinsamen Parlamentarischen Treffen reden zu dürfen. Es ist wichtig für die Parlamente, gemeinsam über die Zukunft Europas debattieren zu können. Ich erwarte mit großem Interesse die Debatte und den Gedankenaustausch.
Vor einigen Wochen hatte ich das Vergnügen, an der Helsinkier Cosac-Sitzung teilzunehmen. Für mich war sie eine sehr wertvolle Erfahrung, sowohl was die Diskussionen als auch was die Ergebnisse anbetrifft.
Ich möchte Ihnen zunächst berichten, wie die finnische Ratspräsidentschaft die Reflexionsphase genutzt hat, um dem Verfassungsprozess voranzubringen.
Das finnische Parlament wird heute Nachmittag über den Verfassungsvertrag abstimmen. Ich bin davon überzeugt, dass eine deutliche Mehrheit für die Vertragsratifizierung votieren wird. Als Sie im Mai Ihr letztes Treffen abhielten, stimmte das Parlament Estlands dem Vertrag zu. Vielleicht sollten Sie sich öfter versammeln!
Finnland hat im Laufe des Herbsts mit den Mitgliedsstaaten bilaterale Gespräche über die Zukunft des Verfassungsvertrags geführt. Dabei ging es sowohl um das weitere Vorgehen als auch um den Inhalt des Vertrags. Mit fertigen Lösungen konnte niemand dienen, aber zumindest ist in den meisten Ländern inzwischen eine nationale Debatte über die Verfassungsfrage in Gang gekommen.
Der Inhalt der Gespräche, die Finnland mit den Mitgliedsstaaten geführt hat, ist vertraulich. Daher werde ich an dieser Stelle nicht auf Einzelheiten eingehen, aber ich beabsichtige, dem bevorstehenden Europäischen Rat eine mündliche Zusammenfassung der Gespräche zu präsentieren.
Zweck dieser Konsultationen war es, den Bericht über die Zukunft des Verfassungsvertrags zu fundieren, mit dessen Ausarbeitung im Juni Deutschland beauftragt wurde. Der Bericht, der während der deutschen Präsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 erstellt wird, soll als Grundlage für Beschlüsse über die Fortführung des Reformprozesses dienen.
Meine eigene Auffassung ist, dass der Verfassungsvertrag ein gut ausbalanciertes Ganzes ist, eine Reform, die Europa benötigt. Daher hat Finnland sich engagiert, um den Vertrag sowohl auf nationaler als auch auf Unionsebene voranzubringen. Ich habe nicht vor, mich hier näher über Lösungsmodelle für die derzeitige Pattsituation auszulassen, aber ich möchte feststellen, dass ich persönlich in einer Zerstückelung des Vertrags keine ernstzunehmende Alternative sehe: Die Kompetenzen der Union und ihrer Mitgliedsstaaten müssen exakt festgelegt werden, und die Bestandteile des Verfassungsvertrags bilden ein Ganzes, von dem sich nur schwer einzelne Teile abtrennen lassen.
Verehrte Zuhörer,
Der Europäische Rat vereinbarte im Juni einen zweigleisigen Ansatz. Zum einen sollen die Möglichkeiten, die die derzeitigen Verträge bilden, bestmöglich ausgeschöpft werden, damit konkrete Ergebnisse erzielt werden können. Zum anderen sollen Beschlüsse über die Fortsetzung des Reformprozesses vorbereitet werden. Die im Verfassungsvertrag angelegten Reformen lassen auf sich warten, aber wir haben nicht so viel Zeit, sondern wir müssen die Funktionsweise der Union jetzt verbessern.
Ein »Europa der Ergebnisse« ist genau genommen der beste Weg, auch den Verfassungsvertrag voranzubringen. Wenn wir demonstrieren, dass die EU sehr wohl den Interessen ihrer Bürger dient, fördern wird das Entstehen eines konstruktiven Klimas, in dem sich auch das Verfassungsvertragsproblem lösen lässt.
Es gibt eine ganze Reihe von Projekten, in denen gute Resultate erreicht worden sind. Ihnen allen gemein ist unter anderem, dass die Unionsakteure – die Kommission, das Europäische Parlament und die Mitgliedsstaaten – den echten Willen besaßen und auch fähig waren, Lösungen zu finden. Als Beispiele seien hier die Dienstleistungsrichtlinie und das Siebte Rahmenprogramm für Forschung genannt. Ich hoffe, dass wir dieser Liste noch vor Weihnachten das sowohl für die Verbraucher als auch für die Industrie wichtige Chemikalienrechtpaket Reach hinzufügen können.
Die bestehenden Verträge geben also sowohl für Beschlüsse als auch für die Verbesserung der Beschlussfassungsmechanismen ein brauchbares Fundament ab. Bei der Weiterentwicklung hat sich die finnische Präsidentschaft vor allem auf drei Fragen fokussiert, in denen Möglichkeiten und Bedarf für Fortschritte bestanden: größere Offenheit und Transparenz, verbesserte Effizienz der Außenbeziehungen sowie effizientere Beschlussfassung in den Bereichen Justiz und Inneres. Hierzu einige Worte.
Die Union kann viele Erfolgsstorys vorweisen. Im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik hat sie beträchtliche Fortschritte gemacht. Ein gutes Beispiel aus der laufenden Präsidentschaft war die schnelle Reaktion auf die Krise im Libanon. Die EU bewies Handlungsfähigkeit. Wir waren in der Lage, für die erweiterte UN-Operation schnell eine bedeutende Anzahl von Truppen bereitzustellen.
Als ein weiteres Beispiel sei hier das informelle Gipfeltreffen von Lahti genannt. Russland wird oft als Beispiel für jenen Bereich der auswärtigen Beziehungen angeführt, in dem es der Union besonders schwer fällt, mit einer Stimme zu sprechen. Ein geschlossenes Auftreten gegenüber Russland ist für die EU jedoch von großer Bedeutung. In Lahti gelang das, obwohl es im Vorfeld des Treffens keinen Mangel an Zweiflern gab.
Die Dinge haben sich also in letzter Zeit in eine gute Richtung entwickelt, aber zugleich gibt es schwierige Herausforderungen zu bewältigen und Klippen zu umschiffen. Eine Frage lautet: Was können wir tun, um eine bessere Kohärenz der externen Maßnahmen der Gemeinschaft zu erreichen, sowohl zwischen den verschiedenen Säulen als auch zwischen den Unions- und den staatlichen Akteuren? Es liegt auf der Hand, dass das Säulensystem die Effizienz der Union schwächt; die Spaltung der Außenpolitik in die äußeren Beziehungen der Union auf der einen und die Außenbeziehungen der zweiten Säule auf der anderen Seite ist im Hinblick auf die Wirksamkeit eine schlechte Lösung. Für die Außenbeziehungen gelten je nach Säule verschiedene Regeln, Prozeduren und Zuständigkeiten.
Die konsequenteste Lösung wäre es, die Gemeinschaftsmethode auf alle Außenbeziehungen auszuweiten. Auch der andauernde Erweiterungsprozess spricht für dieses Modell. Die Verfassung hätte in dieser Beziehung Verbesserungen gebracht. Aber wir müssen auch ohne Verfassung weiterkommen, und zwar auf dem Wege praktischer Maßnahmen. Hierüber besteht zwischen den Akteuren der Union ein breites Einvernehmen. Der Europäische Rat vom Juni erteilte der finnischen Präsidentschaft hierzu ein Mandat. Unser Auftrag war es, die Effizienz der europäischen Außenbeziehungen zu fördern.
Wir haben an dieser Front Fortschritte erreicht, teilweise durch recht banal wirkende Änderungen. Der Akzent lag auf praktischen Maßnahmen, die nicht für fette Schlagzeilen geeignet sind – höchstens indirekt, durch effektiveres Handeln und bessere Ergebnisse.
Im zurückliegenden Herbst wurden u.a. die Vorbereitungen für Gipfeltreffen zwischen der Union und Drittländern weiterentwickelt. Dazu gehören ein früherer Beginn der Vorbereitungen, Bemühungen um eine stärker an strategischen Gesichtspunkten ausgerichtete Planung und um Loslösung von schematischen Mustern. Auf Ministerebene kamen der Außenminister der Präsidentschaft, der Hohe Repräsentant und die für die Außenbeziehungen zuständige Kommissare einmal monatlich zusammen, um die im kommenden Monat bevorstehenden Herausforderungen für die gemeinsame Außenpolitik zu besprechen, und zugleich wurde das Auftreten der einzelnen Unionsländer in internationalen Organisationen stärker koordiniert. Die Staats- und Regierungschefs hielten ihr erstes allgemeines Koordinationsmeeting ab, bei dem sie die auswärtigen Herausforderungen während der Präsidentschaft einer gesamtheitlichen Betrachtung unterzogen.
Dies war erst der Beginn. Es gilt, diese praktischen Maßnahmen fortzusetzen und neue zu entwickeln. Ich hoffe, dass Deutschland und Portugal sowie alle späteren Ratspräsidenten diese Arbeit fortführen.
Sehr geehrte Parlamentarier,
Die Bürger erwarten von der Europäischen Union wirksame Maßnahmen zur Abwehr von internationaler Kriminalität, Menschenhandel und Terrorismus. Ich bin der Meinung, dass die Union gegenwärtig zu oft versagt, wenn es darum geht, diesem Wunsch der Bürger zu entsprechen.
Wir finden uns immer wieder in einer Situation wieder, in der eine kleine Minderheit von Mitgliedsstaaten von ihrem Vetorecht Gebrauch macht, um eine Entscheidung zu blockieren. Es ist bedauerlich leicht, hierfür Beispiele zu finden: Die Beratungen über einen Europäischen Haftbefehl dauerten über drei Jahre, die Vorbereitungen für einen EU-Rahmenbeschluss gegen Rassismus sind in den beiden vergangenen Jahren keinen Schritt vorangekommen, die Verhandlungen über die Entwicklung grenzüberschreitender polizeilicher Ermittlungen sind gescheitert.
Das ist das Grund dafür, dass Finnland es sich als eines der Ziele für seine Präsidentschaft setzte, die Beschlussfassung speziell in jenen Bereichen zu entwickeln, in denen es um die Sicherheit der Bürger geht. Ein entsprechendes Mandat erteilte uns auch der Europäische Rat vom Juni.
Die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit ist ein schwieriges Feld. Ich bin davon überzeugt, dass viele Mitgliedsstaaten gerade deshalb so wenig Kompromissbereitschaft zeigen, weil jeder Mitgliedsstaat, wenn ihm danach steht, jede in Verhandlung befindliche Lösung zu Fall bringen kann. Und wenn dann doch eine Entscheidung zustande kommt, dann sind die Ergebnisse dürftig und die erzielten Fortschritte gering.
Die Mitgliedsstaaten und die Organe der EU haben die Union gedrängt, sich außer um die Produktion neuer Rechtsakte auch um die Verbesserung der konkreten Zusammenarbeit zu bemühen. Ich bin exakt der gleichen Meinung. Aber auch für diese Zusammenarbeit werden Regeln benötigt, und es sind gerade diese Regeln, über die ein Einvernehmen zu finden uns so schwer fällt. Mit anderen Worten: Die konkrete Zusammenarbeit kann nur dann effizient funktionieren, wenn die Beschlussfasser bereit sind, vernünftig zu handeln.
Finnland schlug als Lösung vor, im Bereich Inneres und Justiz zum Prinzip des Mehrheitsentscheids überzugehen. Für eine solche Änderung bieten auch die bestehenden Verträge die Möglichkeit, aber sie setzt Einstimmigkeit voraus, und die konnte beim Treffen der Justiz- und Innenminister in Tampere nicht erreicht werden. Aus diesem Grund wird Finnland nicht in der Lage sein, dem bevorstehenden Europäischen Rat die Einführung der so genannten Passerelle-Regelung vorschlagen.
In Tampere stellten die Mitgliedsstaaten fest, dass der Verfassungsvertrag der beste Weg sei, voranzukommen. Auch dieser Sicht schließe ich mich an, aber bedauerlicherweise wissen wir nicht, wie es mit der Verfassung weitergehen wird und wann. Die vorangehend beschriebene Angelegenheit hätten wir schon im Herbst erledigen können. Ich beabsichtige, im bevorstehenden Europäischen Rat mit meinen Kollegen über eine Verbesserung der Beschlussfassung in den Bereichen Justiz und Inneres zu diskutieren. Mein Wunsch ist es, dass wir uns alle darauf verpflichten, eine Lösung für dieses Problem zu finden.
Meine Damen und Herren,
Im Hinblick auf Offenheit und Transparenz hatte Finnland sich für seine Präsidentschaft drei Ziele gesetzt: mehr Offenheit der Ratssitzungen, verbesserten öffentlichen Zugang zu Unionsdokumenten sowie Verbesserung der Kommunikation.
Die Bestimmungen über die Offenheit der Ratssitzungen wurden zu Beginn der finnischen Präsidentschaft geändert. Bislang haben wir fast 90 Ministertreffen öffentlich abgehalten – im entsprechenden Vorjahreszeitraum betrug die entsprechende Zahl 17. In den letzten vier Monaten betrug der Anteil der unter den Augen der der Öffentlichkeit geleisteten legislativen Arbeit des Rats 86 %. Die Sitzungen konnten via Internet verfolgt werden. Somit war es beispielsweise dem französischen Bürgermeister, dem chinesischen Journalisten und dem grönländischen Fischer möglich, sich auf Wunsch selbst einen Eindruck davon zu machen, wie Unionsgesetze entstehen.
Der Akzent beim Zugang zu Dokumenten lag auf der Gewährleistung der Öffentlichkeit von Dokumenten, die die Gesetzgebung betreffen. Alle bei öffentlichen Sitzungen behandelten Dokumente waren automatisch öffentlich und im Internet zugänglich. Eine Überarbeitung der Verordnung über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten der EU steht im kommenden Jahr bevor.
Im Bereich der Kommunikation haben wir besonderes Augenmerk der rechtzeitigen Bereitstellung und dem Umfang der auf der Präsidentschafts-Website veröffentlichten Informationen gewidmet. Das veröffentlichte Material wurde in mehrere Sprachen übersetzt. Die Amtssprachen der Website sind Englisch und Französisch, Pressemitteilungen werden außerdem in finnischer, schwedischer und deutscher Sprache angeboten). Um die Arbeit der Medien zu erleichtern, wurden u.a. auch die Mobiltelefonnummern der amtlichen Ansprechpersonen veröffentlicht.
Verehrte Zuhörer,
Abschließend möchte ich noch mit einigen Worten auf das zentrale Thema der finnischen Präsidentschaft eingehen, und zwar die Erweiterung. Es ist vorgesehen, dass sich die Staats- und Regierungschefs beim Europäischen Rat eingehend über die künftigen Herausforderungen der Erweiterung aussprechen. Für mich persönlich ist es klar, dass wir die Erweiterung fortzuführen haben, mit der gleichen offenen und objektiven Herangehensweise wie bisher und ohne neue Restriktionen oder Bedingungen hinzuzufügen.
Die Erweiterung ist von wesentlicher Bedeutung für die Zukunft Europas. Die offene Erweiterungspolitik der Union ist eine Erfolgsstory gewesen, und ich freue mich, dass wir Anfang nächsten Jahres Bulgarien und Rumänien als neue Mitglieder willkommen heißen können.
Die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei sind in einem kritischen Stadium angelangt. Finnland hat sich als Ratspräsident um eine Lösung bemüht, die unter anderem türkische Häfen und Flughäfen für Schiffe und Flugzeuge aus Zypern geöffnet und zugleich direkten Handel mit Nordzypern ermöglich hätte. Leider konnte über dieses Paket keine Einigung erreicht werden.
Die Kommission hat ihre eigene Empfehlung für Maßnahmen im Hinblick auf die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei abgegeben. Ich meine, dass der Vorschlag der Kommission ein gutes Fundament für einen Ratsbeschluss abgibt. Ich gehe davon aus, dass der Rat für Allgemeine Angelegenheiten und Außenbeziehungen die notwendigen Entscheidungen über die Verhandlungen mit der Türkei trifft, so dass wir diese Frage nicht dem Europäischen Rat vorlegen werden.
In diesem Zusammenhang möchte ich herausstreichen, dass wir nach wie vor an dem Ziel eines Beitritts der Türkei zur Europäischen Union festhalten. Der Zug mag zwischendurch langsamer fahren, aber an seiner Destination hat sich nichts geändert.
Sehr geehrte Parlamentspräsidenten,
Werte Parlamentarier,
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Ich werde Ihnen während der Debatte für Rede und Antwort zur Verfügung stehen.